Über Jahrtausende lebte der Mensch in enger Verbundenheit mit den natürlichen Bedingungen und Prozessen, verstand sich selbst als Teil der Natur und begriff seinen Lebensweg – Kindheit, Jugend, Erwachsensein und Alter – wie den Kreislauf der Jahreszeiten in der ihn umgebenden Natur.
Mit Ritualen und kultischen Handlungen tat er das seine, um an den Zyklen der Natur teilzunehmen und sie nicht zu unterbrechen. Initiationsriten halfen ihm dabei, die einzelnen Phasen seines Lebens zu füllen, abzuschließen und hinter sich zu lassen. Alle traditionellen Kulturen der Welt kannten derartige und meist überraschend ähnliche Übergangsriten (rites of passage, rites de passage), mit denen die krisenhaften Schwellen auf dem Lebensweg gemeistert, die traditionellen Erfahrungen weitergegeben, die Kultur erhalten und das Verhältnis zur Natur gepflegt wurde. Man starb symbolisch in der alten Rolle und wurde in die neue Rolle hinein wiedergeboren. Die meisten Übergangsrituale und Initiationen fanden außerhalb der Siedlungen in der Wildnis statt, allein und fastend. In dieser Tradition steht auch die moderne Praxis der Visionssuche.
In der modernen Gesellschaft steht der Mensch – ungeachtet aller technischen Errungenschaften – vor den gleichen existentiellen Krisen und Übergängen wie unsere Ahnen. Die zentralen Wendepunkte seines Lebens sind immer noch der Übergang vom Jugendlichen zum Erwachsenen (vom Junge zum Mann, vom Mädchen zur Frau), die Heirat oder Trennung, die Geburt von Kindern oder der Tod von Freunden und Verwandten, der Übergang zum reifen Erwachsenen in der Lebensmitte (midlife-crisis), der Abschied vom Arbeitsleben, das Ende des Lebens. Doch im Gegensatz zu den traditionellen Kulturen bietet die moderne Zivilisation für diese Übergänge keine Rituale mehr an, die den Übergang von einer Lebensphase in die nächste unterstützen. Während diese Aufgabe traditionell von den Ältesten einer Gemeinschaft übernommen wurde, fehlt es in der modernen Welt an anerkannten älteren Ratgeber/innen und Mentor/innen. Die politischen und sozialen Folgen dieses Mangels sind allgegenwärtig: Wir erleben eine gesellschaftliche Sinnkrise, suchtartiges Konsumverhalten und wachsende Gewalt in einer insgesamt kindlichen Kultur.
Die moderne Praxis der Visionssuche in der Wildnis nutzt die überlieferten Grundstrukturen von Übergangs- und Initiationsriten. Ohne ein Glaubenssystem vorzugeben, bietet sie rituell gestaltete Übergänge in die nächste Stufe persönlichen Wachsens und Wirkens an. Sie verbindet die Suche nach individueller Neuorientierung im Alltag, nach Sinn und lebensfördernden Werten mit der Rückbesinnung auf die Natur als Ausdruck des Göttlichen, als Lebensspenderin, Lehrerin und einzige menschliche Heimat.
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